Akuter Trauerfall? Wir sind da!

Wie fühlt sich Weihnachten an und was hat das Jahr mit unserer Einstellung zum "Fest der Liebe" oder zu Liebe allgemein gemacht?


Irgendwie ist dieses Blatt ähnlich leer wie mein Herz, die Straßen dieser Hauptstadt und mein Kopf, wenn ich versuche über Weihnachtliches nachzudenken. Ich wehre mich mehr als in den letzten Jahren bereits, gegen dieses Fest und die Fröhlichkeit, die penetrant aus den Lautsprechern in jedem Supermarkt und dem heimischen Radio tönt. “Last Christmas”? Ja, wie war das damals? So ohne Kontaktbeschränkung und Reiseverbot? Wie war das, als wir noch viel besser so tun konnten als wäre alles ok? In unserer kleinen Weihnachtsblase, in die sich jede Familie sehnsüchtig flüchten konnte und die nicht selten unter dem prachtvoll geschmückten Tannenbaum dann ihr jähes Ende fand.

Ein Jahr voller schmerzlicher Enthüllungen

Das wird es in diesem Jahr so nicht geben, denn die ganze Welt steckt in diesem großen Chaos, das nicht ausschließlich Corona verschuldet hat. Nicht, dass man diese Pandemie kleinreden könnte, doch was noch viel größer scheint, sind die Umstände, Folgen und die unzähligen Missstände, die wir alle lange verdrängten und die nun ihren großen Auftritt haben. Die Welt zieht blank und zum Vorschein kommen mangelnde Kapazitäten in lebensnotwendigen Institutionen, direkt gefolgt von zu wenig Anerkennung für das, was uns tatsächlich am Leben hält und fehlende Hilfe für diejenigen, die bereits in Not (über-)lebten und deren Situation sich grausam und rapide zuspitzt. Dieses Jahr vermag uns keine noch so romantisch hell leuchtende Lichterkette darüber hinweg zu blenden.

Doch ich möchte gar nicht alles aufzählen, was jeder bereits begriffen haben sollte. Eigentlich möchte ich nur laut und schreibend darüber nachdenken wie dieses Weihnachtsfest stattfinden kann. Wie wir es ertragen können dieses Fest der Nähe und Liebe im Angesicht unserer globalen Trauer zu zelebrieren und ob wir überhaupt noch was zu feiern haben.

Was können wir dieses Jahr überhaupt noch feiern?

1.570.696 Menschen starben dieses Jahr alleine im Zuge der Pandemie - sagt Google - und es mag zu simpel klingen aber notwendiger sein als jemals zuvor: Wir, die jetzt hier sitzen und lamentieren, dass wir nicht genug Freiheiten haben, ja, WIR leben.
Das ist vielleicht der einzig wahre Grund, den wir zelebrieren sollten. Still und in grenzenloser Dankbarkeit.
Sofort stellt sich dann aber eine weitere, wirklich unvermeidbare Frage, nämlich “wozu”?
Ich schenke dir meine Antwort darauf und du kannst sie gerne nehmen oder ablehnen aber ich lebe schlichtweg, um zu lieben. Nicht die weihnachtlich provozierte, heraufbeschworene Liebe, nicht das Mistelzweig-Getue, nicht die Liebe in Form von Geschenken. Ich rede von der Liebe, mit der wir uns ganz konkret darum sorgen, wie es unserem Gegenüber geht.

Ich möchte mir keinen Heiligenschein schreiben, sondern gerne erklären, wie ich es meine, damit man es nicht nur lesen, sondern auch fühlen kann. Vielleicht so sehr, dass auch du diese Liebe bewusster fühlen kannst. Denn können könnten wir es alle.


Nichts scheint genug, um es besser zu machen

Ich brauchte einen ganzen Lockdown und den Sommer, um mich innerlich neu auszurichten. Wie so viele stellte ich mir grundsätzlich aber auch ganz private, kleinlich wirkende Fragen, bis ich zu der einen großen kam: Was zur Hölle machst du hier? Hier in diesem Leben, inmitten all der Menschen, die sterben, überleben oder eins von beidem versuchen? Die Antwort habe ich ja bereits kurz umrissen aber “Liebe zu leben”, mit all den Einschränkungen, ist echt eine Herausforderung.
Ich kämpfte also weiter um jede Trauerrunde mit Hygiene-Konzept oder Spaziergänge und hatte glücklicherweise meine, stets meinen Rücken stärkende, Weggefährtin an meiner Seite. Ich führte mehr Telefonate mit Trauernden und hielt mein Herz offener als jemals zuvor, denn es schien schlichtweg notwendig. Ich schrieb und las Gedichte über Trauer aber auch über Liebe, Mut und Hoffnung, um genau das alles zu vermitteln. Ich sprach beruflich mit vielen Kunden, die verzweifelt und hoffnungslos unter erschwerten Bedingungen Beerdigungen planen mussten. Das alles war anstrengend und ich gab dem Bedürfnis stets nach, so liebevoll wie nur möglich all diesen Menschen zu begegnen. Doch es war nicht genug. Noch immer fühlte ich mich machtlos. Es war alles in allem ein Tropfen auf dem heißen Stein, wie man so schön sagt. Die Erkenntnisse und die Deutlichkeit, die 2020 über uns herein brachen erforderten etwas anderes.


Nächstenliebe passiert spontan und ohne Notwendigkeit


Und dann kam es zu einer Begegnung Ende November, die mir in ihren vielleicht 20-Minuten ein oder mein Gefühl von Weihnachten bescherte. Ich hatte einen wirklich schönen Tag, mittlerweile war es Abend und als ich eigentlich schon fast auf dem Heimweg war, traf ich dich. Du, Anfang 20 mit deinen großen, traurigen Augen, fragtest mich nach einem Feuer. Glücklicherweise hatte ich eins zur Hand, denn die Zigarette, die du damit angezündet hast, schienst du bitter nötig zu haben. “Thank you” sagtest du im Gehen und irgendwas war nicht ok in diesem Moment. Du solltest noch nicht gehen, mit schweren Schritten und diesen großen, traurigen Augen. Also lief ich dir nach, tippte auf deine Schulter und fragte, fast noch bevor du dich zögerlich umdrehtest, ob alles in Ordnung mit dir sei. Ich sagte dir, dass ich deinen Blick gesehen hatte und dich nicht so nicht ziehen lassen wollte. Du hast daraufhin mit einem Mundwinkel versucht zu lächeln und dann hast du mir von dir erzählt. Von dir und der Trauer in deinen Augen.


Jedes Schicksal verdient jederzeit Zuwendung und Liebe


So standen wir da und redeten und später lachtest du sogar mit beiden Mundwinkeln - kurz aber immerhin. Ich auch. Das tat gut, denn in diesem 20 Minuten konnten wir reden und ich war so dankbar für deine Offenheit, du für meine und wir gemeinsam für einen Moment ohne Einsamkeit. Deine Geschichte war bewegend aber tut hier zumindest nichts zur Sache, denn es geht nur um die Begegnung und die Tatsache, dass wir sie zugelassen haben. Diese Nähe ohne Berührung, diese Aufmerksamkeit und Ehrlichkeit einer völlig fremden Person ist im warhaftigsten Sinne das, was ich als Aufatmen (seit einer langen Zeit) empfinden konnte. Natürlich liebe ich meine Freunde und meine Familie stets und immer und so viel ich kann. Doch in dem Moment, in dem ich ohne nachzudenken bereit bin, einem fremden Mensch gegenüberzutreten und für ihn auch bedingungslos mein Herz offen zu halten, in diesem Moment hab ich eine wirkliche Möglichkeit gefunden die Extra Meile Liebe zu gehen. Nicht weil es nur in diesen Zeiten nötig scheint, sondern immer und für alle Zeit.


Und jetzt ist dieses Blatt alles andere als leer und meinem Herzen geht es ähnlich. So bleibt mir nicht viel mehr als euch ein Weihnachten zu wünschen, das so erfüllend ist wie meine 20 Minuten mit diesem Fremden und der Extra Meile Liebe, die wir immer gehen sollten.




geschrieben von: Luna Schön

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