Stille Nacht, traurige Nacht

 

Warum es in Ordnung ist, an Weihnachten zu weinen und wie wir trotzdem Kraft schöpfen können 


„Das große Sehnen“ – so hatte der Journalist Boris Herrmann neulich seinen Artikel über Corona-Regeln an Weihnachten in der Süddeutschen Zeitung überschrieben. 

Vermutlich werden die meisten von uns an diesem denkwürdigen Weihnachten nach irgendetwas oder irgendjemandem Sehnsucht haben. Doch während die meisten Trost finden in dem Gedanken, dass es nächstes Weihnachten wieder wie gewohnt weitergehen kann, gibt es viele, die diese Aussicht nicht haben. Denn für sie hat sich ein Schatten über Weihnachten gelegt, der über die Corona-Situation hinausgeht.

 

 

Wie zum Beispiel Judith Kausche, deren Mutter dieses Jahr an Krebs verstarb. 
„Ich würde Weihnachten dieses Jahr gern ausfallen lassen“, sagt sie. „Ich kann es nicht erwarten, dass es vorbei ist und ich wieder an etwas anderes denken kann. Auch wenn ich weiß, dass es mich von nun an jedes Jahr in irgendeiner Form treffen wird.“

Es ist nicht so, dass Judiths Familie Weihnachten auf besondere Art gefeiert hätte. Sie kamen einfach zusammen an Heiligabend, redeten bis in die Nacht und spielten Karten. 
„Das Besondere an diesem Fest ist eben, dass es ein Familienfest ist. Alles dreht sich darum, mit wem du es verbringen wirst. Und dank der Adventszeit wirst du auch Wochen vorher schon ständig daran erinnert. Daher ist es auch anders als ein Geburtstag, der sich jährt. Immer wieder diese Frage: Und, mit wem feierst du?“

Treffen werden wir uns dieses Jahr auch, nur eben auf dem Friedhof. 

 

 

Am Grab war sie seit der Beerdigung noch nicht – wenn es ihr gut tue, könne es eine neue Tradition werden. „Auch wenn ich nicht glaube, dass Rituale verhindern können, dass man traurig ist.“ 

Das können sie in der Tat nicht, und „Tränen sind erlaubt“, findet Barbara Rolf, Direktorin Bestattungskultur bei der Ahorn Gruppe

Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen helfen sie nicht nur der Traurigkeit, sich einen Weg zu bahnen, sondern ihn auch freizumachen für andere, befreiende Gefühle wie Freude an der Erinnerung.

 

Die Kerze am Grab ist ein solches, weit verbreitetes Ritual, um dem oder der Verstorbenen in diesen Tagen einen Platz zu geben und Licht ins Dunkel zu holen. 
"Ein schönes verbindendes Zeichen ist auch, zwei identische Anhänger für den Christbaum zu besorgen, den einen zum Grab zu bringen und den anderen an den Baum zu Hause zu hängen“, so Barbara Rolf. „Die Lieblingsplätzchen oder das Lieblingsessen des oder der Verstorbenen kann zubereitet und in Gedenken verzehrt werden.“

Die Sinne spielen im Leben und also auch in der Trauer eine ganz wichtige Rolle.

 

Das sagt Kerstin Gernig, die Menschen bei Neuanfängen coacht. „Sich etwas Köstliches kochen und auch schon das Zubereiten zu genießen, tut gut.“

Es gilt also, die Balance zu finden zwischen dem Alten, das man vermisst und dem Neuen, das einen innerlich auf anderen Pfaden wandeln lässt. 

Das kann ein nächtlicher Spaziergang im Schnee sein an einen Ort, der dem fehlenden Menschen etwas bedeutet hat. Oder eine Notiz an sich selbst, die man im nächsten Jahr zu Weihnachten wieder liest und reflektieren kann.

 

 

„Mir hilft es, wenn ich dem Menschen, den ich vermisse, einen Brief schreibe, um meine Gefühle und Gedanken zu ordnen“, so Gernig. 

 

Doch selbst an diesem Weihnachten muss man nicht alles mit sich selbst ausmachen. Während viele Trauernde unsicher sind, wie weit sie sich „zumuten“ dürfen, empfiehlt Gernig, „offen über die eigenen Gefühle zu sprechen. Nur so können andere von unserer Verwundbarkeit durch die Einsamkeit und Trauer erfahren.“ 

Im Corona-Jahr sind die Aussichten immerhin gut, dass das allgemeine Bewusstsein für Tod und Trauer etwas geschärft ist. Denn für viele war es ein Trauerjahr – nicht nur für frisch Hinterbliebene oder frisch Geschiedene. Fast alle mussten ihre wichtigsten Tage des Jahres neu begehen. 

In einem Trauerjahr muss man einmal alles, was ein Leben ausmacht, von den Festen – Geburtstag, Ostern, Pfingsten, Weihnachten, Silvester – bis zum Alltag – Reisen, Reden, gemeinsames Frühstücken und Abendessen, Nähe, Vertrauen, Geborgenheit – allein bewältigen. Das ist nicht einfach. 

 

Daher rät auch Bernd Tonat, Bestatter und Inhaber der Himmelsleiter in Berlin, dazu, das Bedürfnis nach Kontakt klar zu kommunizieren, auch wenn Angst vor physischer Nähe bestehe. „Vor dem Computer kann ebenso Verbundenheit entstehen“, sagt er. „Da können zwei Menschen an verschiedenen Orten eine Kerze anzünden oder sich einen Tee machen, bevor sie anfangen zu sprechen, dann fühlt sich das schon ganz anders an.“

 

 

Das Alleinsein kann auch heilsam sein. „Für manche Menschen, die zum Aktionismus neigen, liegen vielleicht sogar Chancen in diesem stillen Weihnachten“, so Tonat. „Diese Zwangspause führt dazu, dass viele erst wieder Ruhe erleben.“

„Weihnachten war auch immer das Fest der größtmöglichen Erwartungshaltung“, schreibt Boris Herrmann im eingangs erwähnten Artikel. 

So groß, dass Judith Kausches Mutter letztes Jahr schon kein gemeinsames Weihnachten feiern wollte. Aus Angst, dem Aufwand nicht mehr gewachsen zu sein. 

„Wir haben sie trotzdem dazu gebracht“, sagt Kausche. „Aber im Nachhinein denke ich mir: Wahrscheinlich wollte sie einfach nicht, dass es eine Abschiedsveranstaltung wird.“

Wir können wohl nicht verhindern, dass manches Weihnachten sich wie ein Abschied anfühlt. Doch vielleicht können wir mit den hier beschriebenen Ritualen dazu beitragen, dass es auch ein Neuanfang wird.
 

Beitrag: Charlotte Wiedemann
Bilder: Angelika Frey


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