Der erste Tag vom Rest deines Lebens

 

 

 

Zu Beginn dieses Artikels ein Gedankenexperiment.

Stell dir vor, du bereitest dich auf deinen Tod vor. Vielleicht bist du krank und schwach, im besten Fall hast du dein Leben gelebt, bist mit Freunden und Familie zuhause und mit dem Gedanken versöhnt, bald gehen zu müssen. 

Wie stellst du dir diesen Moment vor? 
Hörst du das Klappern von Geschirr und das leise Gewirr von Stimmen? 
Riecht es nach frisch gewaschener Bettwäsche?
Schmeckst du noch dein Lieblingsessen im Mund?
Fühlst du die Wärme einer Berührung auf deiner Hand?
Siehst du die Menschen, die um dein Bett herumstehen? 

Welche Menschen sind das und was hast du ihnen zu sagen? 
Sind es dieselben Menschen, die über dein Ende entscheiden sollen, wenn du es nicht mehr kannst? Die in deinem Sinne entscheiden, selbst wenn es nicht in ihrem ist? 
Hast du ihnen deine Wünsche mitgeteilt? Und sie umgekehrt nach ihren gefragt? 

Die Frage, wie wir selbstbestimmt leben und sterben wollen, ist in den Tagen seit Corona präsenter denn je. Wir fühlen uns mit unserer Endlichkeit konfrontiert, sind verletzlicher geworden und pochen gleichzeitig auf unsere Freiheit. 
Für unser Leben formulieren wir nach und nach Umgangsregeln mit Covid-19. 
Jetzt dürfen wir nur nicht vergessen, dasselbe auch für den Tod zu tun. 
Denn Freiheit bedeutet auch immer, wählen zu können. Und Verantwortung zu übernehmen für diese Wahl.

Wir sind dabei, uns an das Bild von Patienten an Beatmungsgeräten zu gewöhnen – ein Bild, das den Vorstellungen vieler Menschen zum Lebensende widerspricht. 
„Gerade Beatmung bei fast fehlender Chance auf Rückkehr in das alte Leben lehnt eine große Mehrheit der über 75-jährigen Menschen ab“, schreibt der Palliativmediziner Dr. Thomas Sitte in einem jüngst erschienenen Artikel und verweist auf die Palliativ-Ampel der Deutschen PalliativStiftung.
Rot bedeutet: „Will nur Palliativversorgung. Keine Krankenhauseinweisung.“
Gelb: „Will Klinik und nur bestimmte Maßnahmen.“
Grün: „Will Klinik und Maximaltherapie.“

 

 

Was würdest du wählen, wenn du entscheiden müsstest zwischen Zeit und Qualität? 

Ein Mittel gegen den Tod gibt es genauso wenig wie momentan noch gegen Corona. Sowohl im Krankenhaus als auch zuhause muss der Körper bislang alleine mit dem Virus fertigwerden. Viele Patienten haben also prinzipiell die Möglichkeit, sich zwischen einer Betreuung im Krankenhaus oder zuhause zu entscheiden.

Die meisten Menschen möchten immer noch zuhause sterben.

 

Das sagt Professor Winfried Hardinghaus, Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin am Franziskus-Krankenhaus in Berlin und Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes e.V. im Gespräch mit friedlotse. „Es können aber nicht alle. Im Zuge der Zunahme von Single-Haushalten ist das in vielen Fällen einfach nicht möglich.

Wir haben zwar in den vergangenen Jahren eine Verbesserung schaffen können, zum Beispiel durch die Einrichtung der sogenannten SAPV, also der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, die nach Hause kommt und die Versorgung übernehmen kann. 

Aber wenn jemand völlig alleine, schwer krank und symptombelastet ist, dann muss diese Person in ein Krankenhaus auf eine Palliativstation oder in ein stationäres Hospiz.“

Die Stimmen für einen differenzierteren Umgang mit der Krankheit wurden in den vergangenen Wochen immer lauter. Vermehrt wurde darauf hingewiesen, dass man sehr alte, lungenerkrankte Menschen früher nie leichtfertig an Beatmungsgeräte gehängt hätte. 

„Wir müssen uns immer fragen: Ist die Beatmung des Patienten überhaupt erfolgversprechend? Und: Ist sie zumutbar?“, sagt auch Professor Hardinghaus. 
„Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: Vorerkrankungen, Alter und natürlich vor allem vom Willen des Patienten.“

Ist erkennbar, dass eine solche Therapie nicht gewünscht ist, auch wenn die Chance auf Heilung besteht, wird die Beatmung nicht durchgeführt. „Und die meisten sind zu dem Zeitpunkt ja entscheidungsfähig“, so Prof. Hardinghaus.

Ist keine Patientenverfügung vorhanden und der Patient nicht mehr entscheidungsfähig, können immer noch die Angehörigen befragt werden. Prinzipiell gilt der aktuelle Wille.

„Natürlich hängt das auch vom Einzelfall ab“, fügt Prof. Hardinghaus hinzu, „also davon, ob jemand ein Kämpfer ist und auf jeden Fall alles probieren möchte oder jemand, der diese Belastung nicht mehr möchte und in Frieden sterben will. Das ist das Entscheidende.“

 

 

Die aktuelle Situation beeinflusst natürlich nicht nur den Moment des Sterbens selbst, sondern auch die Trauer der Zugehörigen. Gerade jetzt ermöglicht das Zuhause die größtmögliche Selbstbestimmung im Abschied. Denn sobald der Verstorbene in einer öffentlichen Einrichtung ist, greifen die – zweifellos nachvollziehbaren – aktuellen Schutzmaßnahmen wie geschlossene Särge, Feiern im Freien oder kleine Trauergesellschaften. 

Bei hoch infektiösen Verstorbenen bestimmen die Behörden zu einem hohen Grad, was mit ihnen nach dem Tod passiert, denn sie dürfen zum Beispiel nicht mehr versorgt werden und werden sofort abgeholt. In allen anderen Fällen können jetzt noch viele Fragen auf selbstbestimmte Weise geklärt werden: Wer darf zum Abschiednehmen ans Sterbebett treten? Was geschieht mit dem Leichnam? Wer versorgt den Verstorbenen? Wie lange verbleibt er zuhause? 

In der Zeit, bevor ein Körper im Normalfall in die Kühlung muss (in Berlin und anderen Bundesländern sind das beispielsweise 36 Stunden), ist viel Raum für eigene Gestaltung.

 

 


Julian Heigel, Bestatter bei Thanatos Bestattung, erzählt friedlotse im Interview: 
„Ich rate den meisten Leuten, sich mit der Abholung Zeit zu lassen und den Verstorbenen vielleicht noch eine Nacht bei sich zu behalten.“ 

Eine Frau, deren Mann gestorben war, hat die Nacht sogar noch neben ihm im Bett geschlafen. Das wäre im Krankenhaus zurzeit definitiv nicht möglich.

 

„Eine andere Familie mit vielen erwachsenen Kindern hat gewartet, bis alle da waren und dann noch ein sehr schönes Ritual gemacht, als der Verstorbene noch anwesend war. 
Das wäre in einem fremden Aufbahrungsraum auch schwieriger gewesen.“

Und er fügt hinzu: „Natürlich gibt es auch schöne Krankenhausverabschiedungen, aber die Barriere, sich dort an den Händen zu halten oder sich etwas Persönliches zu sagen, ist einfach höher als zuhause.“

„Corona macht besonders deutlich, dass es wichtig ist, diese Fragen für sich zu klären“, sagt Barbara Rolf, Bestattungskulturbeauftragte bei der Ahorn Gruppe. „Es ist also nicht verkehrt, Gedanken zu Corona in die Patientenverfügung mit aufzunehmen.“ 

Um dir über deine eigenen Wünsche klarzuwerden, kannst du das folgende gedankliche Szenario durchspielen: 

 

  • Du infizierst dich mit dem Coronavirus.
     
  • Du hast – was statistisch eher unwahrscheinlich, jedoch möglich ist – einen schweren Verlauf.
    Wo willst du das durchleben? Wo fühlst du dich sicherer? Im Krankenhaus? Zuhause?
     
  • Du hast – was statistisch noch unwahrscheinlicher, jedoch denkbar ist – einen so schweren Verlauf, dass du beatmet werden müsstest.
    Wo willst du das durchleben? Wo fühlst du dich sicherer? Im Krankenhaus? Zuhause?
    Willst du überhaupt beatmet werden?
    Willst du um jeden Preis am Leben erhalten werden? Nimmst du mögliche Langzeitschäden einer Beatmung in Kauf?
     
  • Willst du lindernd behandelt werden und ggf. sterben, falls dein Körper es nicht schafft?
     
  • Willst du, sofern das schmerzfrei möglich ist, zuhause sein? Weil das deine vertraute Umgebung ist; weil du besucht und begleitet werden kannst; weil du, solltest du sterben, in Ruhe verabschiedet werden kannst?

 

Vielleicht ist die Pandemie zumindest dafür gut: einen bewussteren Umgang mit dem Ende.

 

 

Das findet auch Alua Arthur, Death Doula in Los Angeles und Betreiberin der ‚Death Awareness‘-Plattform Going with Grace, im friedlotse-Interview. 
„In den USA nähern wir uns langsam 100.000 Corona-Toten. Das sind 100.000 Familien. Das ist wirklich signifikant und schlimm. Da kann man von kollektiver Trauer sprechen.“ 

Wir trauern gerade um große und kleine Dinge – um unsere Toten, unsere Freiheit, unsere Zukunft, die Illusion von Kontrolle und das Gefühl von Sicherheit.

 

„Und gerade jetzt in diesem Moment liegt meine Patientenverfügung auf dem Tisch. Ich habe sie seit fast einem Jahr nicht mehr angeschaut und dachte neulich, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt dafür. 

Ich würde den Menschen gerne raten, dasselbe zu tun und ihre Zugehörigen in diese Überlegungen mit einzubeziehen. Wir erleben gerade, was passieren kann, wenn man von solchen Entscheidungen überrascht wird.“

 

Text: Charlotte Wiedemann
Bilder: Angelika Frey


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