Akuter Trauerfall? Wir sind da!

"Alle Menschen sind sterblich"

Das ist der Titel eines (sehr empfehlenswerten) Buches von Simone de Beauvoir. Diese Aussage ist eine uns allen bekannte mit der dahinter stehenden ganz pragmatischen Tatsache dass alles, was lebt, eines Tages stirbt. Unklar dabei ist, wann dies, wo dies und wie dies geschehen wird.

Das Stundenglas - der schnelle Run der Zeit

Das „Wann?“ ist eine anstrengende Frage. Viele Menschen harren Jahre und Jahrzehnte - wie weiland das hypnotisierte Kaninchen vor der Schlange und halbwegs gelähmt vor Angst, diesen Moment aus. Kein Wunder also, dass der Sensenmann den Ruf eines gnadenlosen Mörders bekommen, hat, der uns alle hinterrücks niedermachen wird. Wir wissen: er wird uns kriegen!


Mit diesem Warten angefüllte Jahre, Monate und Wochen können sehr, sehr lang werden. Die Zeit ist eine vollkommen relative Angelegenheit. Sich eine halbe Stunde fröhlich und ausgelassen auf einer Feier zu befinden, ist in bedauernswerter Schnelligkeit schon wieder vorbei, die gleiche Zeit allerdings auf einem Zahnarztstuhl zu sitzen, wird quälend lang. Entsprechend leicht nachvollziehbar ist die bleierne und gelähmte Zeit, wenn die betreffenden Menschen auf ihren ganz persönlichen Weltuntergang warten.


Kinder sehen manchmal älter gewordene Menschen an und dabei kann die Bemerkung fallen, diese seien ja schon uralt, dreißig Jahre oder so. Je kleiner Kinder sind, um so mehr fallen sie aus der Zeit heraus. Sie sind noch nicht an Kalender, Ortszeiten, Zeitumstellungen, Pünktlich- und Unpünktlichkeit gebunden. Ihr Eintauchen in diese Welt und frei und manchmal sieht es so aus, als wäre ein ganzer Tag länger als ein ganzes Jahr. 


Das ändert sich. Je älter Menschen werden, um so präsenter ist das sich unaufhaltsam leerende Stundenglas mit der verrinnenden Zeit geworden. Dann kommen völlig andere Bemerkungen: „Was, ist schon wieder Ende des Monats? Wie? Wieder ein Jahr vorbei?“ Die Betreffenden haben den Eindruck, als rinne ihnen die Zeit zwischen den Fingern davon und ganz plötzlich scheint es, als sei ein ganzes Jahr kaum länger als ein Tag. 


Dann kann in Todesanzeigen durchaus der Satz zu finden sein, dass ein Mensch, weit über neunzig Jahre alt geworden ist und ganz „plötzlich“ und „unerwartet“ verstorben ist. Schwups, schon ist das ganze lange Leben auf einmal vorbei gerauscht und viel zu früh sind unsere Lieben oder wir selbst am Ende angelangt. Es scheint, als drehe sich in jedem Leben von Anfang an eine Zeitspirale, die mit der Zeit immer schneller wird, bis sie davon rast und uns am Ende huckepack mit sich reißt.


„Eines Tages werden wir alle sterben!“, sagt Charlie Brown. „Ja, aber an allen anderen Tagen nicht“, antwortet Snoopy

Leben und Sterben sind Geschwister, die von Anfang an Hand in Hand jedes Leben begleiten. Insofern beginnt das Sterben exakt in dem Moment, wenn das Leben beginnt. Doch wann dieser Zeitpunkt des Anfangs ist, unterliegt auch einem unlösbaren Rätsel. Vielleicht beginnt es erst beim ersten Atemzug? Vielleicht fängt alles mit der Zeugung an? Und vielleicht startet es schon viel früher, unserer Wahrnehmung verborgen? Jedes beginnende Leben trägt den Hauch des wartenden Abschieds in sich. Angesichts dieser ganz einfachen Wirklichkeit ist die menschliche Vision von unser aller Gleichheit und Brüder- und Schwesterlichkeit tatsächlich erfüllt.


Insofern ist auch jede durchgemachte Krankheit - und sei es eine normale Grippe oder sogar eine Infektion mit Covid-19 - eine Krankheit, die im Grunde palliativ (also nur lindernd, es gibt keine kurierende, heilende Behandlungsmöglichkeit) behandelt wird. Der Abschied vom Leben kann durch jede Behandlung nur verzögert werden, nicht aufgehalten. Dabei ist es unerheblich, ob noch einige Wochen, Monate oder Jahre oder sogar Jahrzehnte Verlängerung dadurch entstehen. Leider sind weder das Leben, noch das auf uns alle zukommende Sterben heilbar.


Unsterblichkeit ist eine Illusion

Das Gefühl der Unsterblichkeit ermöglicht jene beschwinge Leichtigkeit und Unbeschwertheit mit denen ein traumwandlerischer Alltag gelebt werden kann. Nur in einigen wenigen Momenten bekommt diese Mühelosigkeit gewaltige Risse: immer dann, wenn ein Tod in der nahen Umgebung gezeigt hat, dass Sterben keineswegs eine Theorie ist, sondern eine bittere Realität ist, werden wir wach für den Gedanken. Allein der Verdacht auf eine lebensbedrohliche Diagnose bringt das gleiche Ergebnis. Viele Frauen erkennen die Kostbarkeit des Lebens, wenn sie Mütter geworden sind oder es werden wollen. Und älter werdende Menschen setzen sich meist Schritt für Schritt und täglich mit den Gedanken an den näher kommenden Abschied vom Leben auseinander. Und insofern sind alle lebenden Menschen Sterbende, die einer Begleitung bedürfen könnten.


Die persönliche Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit könnte als „schwanger angesichts des Abschieds“ bezeichnet werden. Und diese Erkenntnis birgt zwei Möglichkeiten in sich:

  • entweder ich harre ab jetzt auf den Moment, der unweigerlich kommen wird oder

  • ich koste mein Leben auf die gleiche Weise aus, wie ich einen paradiesischen Urlaub genießen und gestalten würde.


Die Würde des Menschen

Auf seltsame Weise werden Menschen, die als austherapiert (an-)erkannt sind, in erheblichem Maße freundlich, achtsam und würdevoll behandelt. Die besten Aufenthaltsorte der Welt scheinen sich in Hospizen zu befinden, denn hier an diesen Orten wird tatsächlich die Würde aller Menschen beachtet und geachtet. Doch warum erst dann?


Eine Vision

Ich stelle mir vor, wir würden in einem ganz normalen Alltag uns selbst und alle anderen als „austherapiert“ erkennen. Die Frau, die uns die Zeitung verkauft, die Briefträger*innen, die unsere Post bringen, die Polizist*innen, die kontrollieren, ob wir auch die coronäischen Regeln einhalten, alle Finanzbeamt*innen und alle anderen Menschen, die uns in unserem Alltag begegnen, würden mit einem aufmerksamen Lächeln und interessiertem Fragen nach deren Wünschen und Vorlieben begrüßt. Das Gleiche würde für alle Menschen gelten, die andere Hautfarben, Figuren, Alter haben, als wir selbst.


Ich nehme an, wir alle gemeinsam wären dem ersehnten, himmlischen Paradies ein Stück näher gekommen, ohne deshalb gleich sterben zu müssen.



copyright Claudia Cardinal Ostern 2021




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